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Tod des Joseph Süß Oppenheimer und Wiederauferstehung als „Jud Süß“
20 November um 19:00 - 21:00
FreeWie eine jüdische Figur der Zeitgeschichte in den Schatten eines über Generationen konstruierten Zerrbilds des Antisemitismus geriert.
Als Carl Rudolph, vorübergehend Regent des Herzogtums Württemberg, am 25. Januar 1738 das Todesurteil gegen den ehemaligen Geheimen Finanzrat Joseph Süß Oppenheimer unterzeichnete, soll er nebenher gesagt haben: „Das ist ein seltenes Ereignis, daß ein Jud für Christenschelmen die Zeche bezahlt.“ Dieser Satz, vielzitiert, scheint aus heutiger Sicht genau ins Schwarze zu treffen. Doch abgesehen davon, dass er nicht wirklich verbürgt ist, so ist er auch in anderer Hinsicht recht zweifelhaft. Zum einen war es schon bis dahin alles andere als ein „seltenes Ereignis“, dass Juden für Christen die Zeche zu zahlen hatten. Im Gegenteil: Verfolgung, Ausplünderung und Vertreibung der jüdischen Minderheit bis hin zu Mord und Totschlag seitens der christlichen Mehrheitsgesellschaft sind in unterschiedlicher Ausprägung in fast allen Gegenden des Heiligen Römischen Reiches – von kurzen Erholungsphasen abgesehen – fester Bestandteil jahrhundertealter Regionalgeschichte, gleich ob in Sachsen, Brandenburg oder eben wie hier in Württemberg.
Zum anderen aber bezog sich Carl Rudolph mit der Bezeichnung „Christenschelme“ wohl vor allem auf jene „christlichen“ Mitangeklagten und einstigen Mitarbeiter des Süß Oppenheimer, die bei der „juristischen“ Abrechnung der württembergischen Stände mit der Regierung des verstorbenen Herzogs Karl Alexander, zugleich Schutzherr des gewesenen Finanzrats, mehr oder minder mit einem blauen Auge davonkamen. Richtiger wäre es jedoch gewesen, hätte der Interimsherzog in den Mitgliedern der verurteilenden „Inquisitionskommission“ die besagten Schelme gesehen. Diese „ehrbaren“ Herren, streng pietistisch und abgrundtief judenfeindlich, hatten nämlich Süß Oppenheimer unter mehr als fadenscheiniger Anklage nicht nur zehn Monate in Festungshaft gesetzt und in dieser Zeit ausplündern, verhören und foltern lassen, sondern über ihn auch nach einem selbst nach damaligem Recht unfairen Gerichtsverfahren das schon vorher feststehende Todesurteil verhängt. Als Vertreter der württembergischen Landstände und darum natürliche Antipoden der herzoglichen Zentralmacht traten sie, zusätzlich von religiösem Fanatismus und persönlicher Rachsucht getrieben, als Ankläger, Richter und Henker in einem auf. Sie wollten ein Exempel statuieren gegen alle Bestrebungen absolutistischer Herrschaft in Württemberg und schreckten auch vor einem Justizmord nicht zurück. Sie wussten, dass sich für den zum Sündenbock gemachten, und aus ihrer Sicht verstockt bei seiner Religion gebliebenen Juden kaum ein Christ verwenden würde; und dass die Juden es erst recht nicht täten, aus Angst vor Repressalien und weil der Finanzrat zu Lebzeiten ohnehin sich kaum an die religiösen Gesetze zu halten schien. War dieser Mann, der in besseren Tagen in Samt und Seide und mit einer gepuderten Perücke aufzutreten pflegte, überhaupt ein Jude? Das werden sich nicht wenige seiner Glaubensbrüder gefragt haben.
Die Landstände ließen den Hofjuden nicht nur an einem zwölf Meter hohen Galgen in einem eigens gefertigten eisernen Käfig aufhängen, sondern organisierten die Hinrichtung als eine Art riesiges Jahrmarktsspektakel mit mehr als 12.000 Schaulustigen und bewacht von 600 Soldaten am Hinrichtungsort. Jedem Christen und vor allem jedem Juden in und außerhalb des Landes sollte der einst so machtvoll unter der schützenden Hand des verstorbenen Herzogs erscheinende, glanzvolle und schon zu Lebzeiten wegen seiner Juwelen und Frauengeschichten sagenumwobene, nun aber in tausenden Flugschriften zum Monster, zum „Jud Süß“ stilisierte, ausgemergelte und tot im Käfig ausgestellte Jude Genugtuung bzw. Warnung sein. Die Botschaft war so einfach wie fürchterlich: Kein Jude kommt in christlichen Landen höher als diese zwölf Meter.
Der Furor der sich in ihrer angestammten Macht bedrängt sehenden Landstände, hauptsächlich bestehend aus führenden Vertretern der evangelischen Kirche und des gehobenen Bürgertums in den Amtsstädten, vielfach untereinander verschwistert und verschwägert, kannte auch mit dem Tod ihres erkorenen Feindes noch kein Ende. Sechs Jahre beließen sie die sterblichen Überreste im Käfig hoch über dem Norden Stuttgarts, bevor der für volljährig erklärte neue Herzog Karl Eugen sie abhängen und an Ort und Stelle namenlos verscharren ließ.
Was übrigblieb, mehr noch, was über die Jahrhunderte bis in unsere Zeit hinein ein immer stärkeres Eigenleben entwickelte, war der Mythos des Unholds, des, wie es in einer der zeitgenössischen Flugschriften hieß, „frechen Iud Süeß Oppenheimer“, der von „Geitz und Übermuth auch Wollust“ eingenommen, zuletzt muss „an [den] Galgen kommen“.
Der vor allem als romantischer Märchendichter, etwa durch „Der kleine Muck“ und „Das kalte Herz“ bekannte Wilhelm Hauff (1802–1827) schrieb als erster eine Novelle mit dem bezeichnenden Titel „Jud Süß“. Diese ebenso gut geschriebene wie unverkennbar antisemitisch konnotierte Vorlage inspiriert bis heute direkt und indirekt viele Künstler und Literaten zu eigenen Werken, darunter den Schriftsteller Lion Feuchtwanger (1884–1958) zu seinem gleichnamigen, sehr erfolgreichen Roman von 1925, den Filmregisseur Lothar Mendes (1893–1974) zu seinem 1934 nach Feuchtwangers Roman gedrehten und in England uraufgeführten Spielfilm „Jud Jüß“ und den Komponisten Detlef Glanert (geb. 1960) zu der 1999 uraufgeführten Oper „Joseph Süß“. Stellen letztgenannte Werke mehr oder minder kritische Auseinandersetzungen mit dem historischen Justizskandal und dem bis in die jeweilige Gegenwart fortwirkenden Antisemitismus dar, so ist der hauptsächlich auf der Grundlage von Wilhelm Hauffs Novelle von Propagandaminister Josef Goebbels (1897–1945) initiierte NS-Spielfilm „Jud Süß“ von Veit Harlan (1899–1964) aus dem Jahr 1940 eine fast nahtlose Fortschreibung des antisemitischen Zerrbilds vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Mehr noch, er ist die ebenso geschickt wie perfide inszenierte Begleitmusik zum Völkermord an den europäischen Juden, endend mit der Hinrichtung des negativ gezeichneten Hauptprotagonisten und einem unverhohlenen Hinweis auf die Nürnberger Rassegesetze vom September 1935.
Gerade bei Harlans Verfilmung stellt sich bis heute die Frage nach der Verantwortung von Künstlern und Kunstschaffenden gegenüber der Gesellschaft eingedenk jeweils herrschender politischer Umstände. Auch ist nach den Möglichkeiten und Grenzen der Indienstnahme von Kunst und Kultur für spezifische politische Absichten zu fragen bzw. nach der Immunisierung und Beeinflussbarkeit von Rezipienten, sprich: Konnte das Kinopublikum im Deutschland der NS-Zeit durch einen Film wie „Jud Süß“ tatsächlich zum Antisemitismus erzogen werden oder konnte er dort nur wirken, wo ohnehin schon eine entsprechende Grundeinstellung vorhanden war?
Diesen und anderen Fragen wird der Potsdamer Bauhistoriker Thomas Sander in seinem Vortrag am 20. November des Jahres nachgehen, nicht, um sie endgültig zu beantworten, sondern um zu weiterem Nachdenken darüber anzuregen.